Gastbeitrag eines Ukrainers: Mit jedem Toten stirbt ein Stück meines Herzens

Im März 2022 ist Viktor Dmytruk vor den russischen Bombenangriffen aus Kiew geflohen. Seither lebt der 33-jährige Schwerbehinderte im bergischen Wermelskirchen (Rheinisch-Bergischer Kreis). In einem Gastbeitrag für ekir.de beschreibt er, was das zurückliegende Kriegsjahr für ihn und sein Heimatland Ukraine bedeutet.

Viktor Dmytruk ist aus Kiew geflohen und lebt seit März 2022 in Wermelskirchen.
Viktor Dmytruk ist aus Kiew geflohen und lebt seit März 2022 in Wermelskirchen.

Krieg. Es fühlt sich an, als wäre es ein Traum und an der Zeit für mich aufzuwachen. Ja, fast ein Jahr ist schon vergangen, aber mir scheint, als hätte alles erst gestern begonnen. Bis vor Kurzem lebte ich ein gewöhnliches Leben, ich hatte Ziele und Träume. Aber heute bin ich ein Fremder in einem fremden Land, mit einer großen Wunde im Herzen. Der Schmerz über das, was in meinem Land passiert mit meinen Bekannten und Freunden – dieser Schmerz vergeht nicht und kann nicht vergessen werden. Ich habe das ganze Jahr mit diesem Schmerz gelebt, ein Jahr intensiver Eindrücke und innerer Erfahrungen. Wenn der Krieg für Sie in Deutschland mit dem ersten Flüchtlingsstrom aus der Ukraine begann, dann haben wir ihn seit 2014. Am liebsten würde ich der ganzen Welt zurufen: „Das ist nicht mein Krieg!“ Aber das kann ich nicht – denn er gehört zu mir von Anfang an. Ich werde versuchen, es zu erklären.

Ja, es gab in unserem Land Auseinandersetzungen darüber, wie sich die Ukraine weiterentwickeln sollte. Im Herbst 2013 gingen Menschen auf die Straße, um den damaligen Präsidenten Janukowitsch an unsere Vorstellungen von der Zukunft unseres Landes zu erinnern. Der Staat hörte nicht zu, sondern zerschlug die Demonstrationen mit Gewalt. Diese Ereignisse und ihre weitere Entwicklung wurden „Maidan“ genannt – nach dem Platz der Unabhängigkeit in Kiew. Dann verteidigten die Menschen ihre Werte mit Blut und die Machthaber flohen aus dem Land. In diesem Moment waren wir am verwundbarsten. Zu diesem Zeitpunkt annektierte Russland einen Teil der Ukraine. Meiner Meinung nach war dies keine geplante Aktion; ich denke, die Russen haben intuitiv gehandelt. Nach der Annexion der Krim folgte ein Referendum im Eiltempo. Weil die Welt dieses Referendum nicht anerkannte, wurden Sanktionen gegen Russland verhängt, und erst dann griff Russland mit seinen blutigen Händen nach der Ostukraine. Schon damals handelten die Russen nach dem Schneeballprinzip: Je mehr die Welt ihre Taten verurteilte, desto mehr zerstörten sie mein Land.

Schon damals war klar, dass dies nicht gut enden würde

Ich kann mir nicht vorstellen, was einen Menschen antreibt, sein Volk in den Krieg zu schicken, um ein anderes Volk zu vernichten. Welches Ziel verfolgt Putin? Welche Bedeutung kann die kleine Ukraine für Russland haben? Das sind keine politischen Fragen, das sind einfach Fragen vernünftiger Menschen. Damals, 2014, begann der Krieg in der Ukraine, und in den Städten wurden bereits tote Soldaten bestattet. Seitdem konnte niemand mehr einschätzen, was in Putins krankem Kopf vorgehen würde. Schon damals war klar, dass es kein gutes Ende nehmen würde. Ein ausgewachsener Krieg schien nur eine Frage der Zeit – und diese Zeit ist jetzt gekommen.

Das letzte Mal, dass ich durch das friedliche Kiew gelaufen bin, war am 20. Februar 2022. Bereits vier Tage später wurden Raketen auf diese Stadt abgefeuert. In dieser Nacht ging ich um 4 Uhr ins Bett, schloss die Augen und hörte die ersten Explosionen. Ich dachte: Jetzt geht es los. Körperlich kann ich selbst fast nichts tun, aber in meinen Gedanken bin ich ein gesunder Mensch. Vielleicht ist es schwer zu verstehen, vielleicht muss es gefühlt werden. Ich bin jedenfalls sicher: Wenn meine körperlichen Behinderungen nicht wären, dann würde ich definitiv mit einer Waffe in der Hand in diesem Krieg kämpfen. So ist mir aber bewusst, dass ich mich und meine Familie im Gefahrenfall nicht schützen kann. Vielleicht ist das eine meiner größten Ängste – meine Liebsten nicht beschützen zu können. Also musste ich die Ukraine verlassen. Wir wussten überhaupt nicht, wohin wir wollten, wir stiegen einfach in einen Zug, der nach Westen fuhr. Dann war es, als ob uns jemand an der Hand nach Deutschland geführt hätte zu den Menschen der Organisation „Willkommen in Wermelskirchen“. Das waren zwei harte Tage unterwegs, auch psychisch: Mütter mit Kindern auf der Flucht vor dem Krieg zu sehen, ihre Geschichten zu hören und zu erkennen, dass meine Familie und ich immer noch Glück haben, dass wir nicht von Kugeln getroffen wurden.

Demonstrierende in Berlin halten Schilder hoch mit mit ukrainischen Flaggen, einer Friedenstaube und Aufforderungen auf kyrillisch.
Demonstrierende in Berlin solidarisieren sich mit der angegriffenen Ukraine.

In dieser Welt wird es immer Menschen geben, die helfen

Als wir nach unserer Ankunft in der Kirche saßen, wo wir untergebracht waren, wusste ich nicht, was als Nächstes passieren würde. Ich wusste nicht, was ich zu Abend essen würde, ich wusste nicht, wo ich schlafen gehen würde. Ich wusste nicht und verstand nicht, wie es morgen werden würde, aber zum ersten Mal seit zwei Wochen war ich ruhig – die  Wände zitterten nicht mehr vor Explosionen. Meine wichtigste Schlussfolgerung, die ich im Laufe des vergangenen Jahres gezogen habe, ist die: Nationalität und soziale Stellung in der Gesellschaft sind überhaupt nicht wichtig – angesichts der Probleme sind alle Menschen gleich. In dieser Welt – egal wo, egal in welcher Ecke des Planeten – wird es immer Menschen geben, die helfen. Und ich kann sagen, ich habe meine Ecke auf diesem Planeten gefunden, in der schönen Stadt Wermelskirchen.

In der Ukraine konnte ich nur zeitweise aktiv sein, vor allem im Sommer, aber der Rest der Zeit verlief ruhiger. Jetzt ist mein Leben ständig in Bewegung. Generell bietet das Leben in Deutschland mehr Möglichkeiten für Menschen mit Behinderungen, angefangen bei öffentlichen Verkehrsmitteln bis hin zu elementaren Hilfsmitteln in öffentlichen Toiletten. Auch wenn es mir immer noch schwerfällt, mich mit Menschen auf Deutsch zu verständigen, verstehe ich Monat für Monat mehr, was sie mir sagen.

Niemand weiß, wie viele Opfer der Krieg noch fordern wird

Ohne Freunde ist es schwer. Während ich in der Ukraine von lieben Menschen umgeben war, übernimmt jetzt meine Freundin auch die Rolle einer besten Freundin, aber so sollte es nicht sein. Ich glaube, dass Freunde verwandte Seelen sind; sie können gefunden werden, wo immer sie sind. Aber es gibt Freunde und Bekannte, die nie wiederkommen werden. Sie wurden in diesem erbarmungslosen Krieg ausgelöscht. Mit jedem Toten, den ich kannte, mit dem ich in Verbindung stand, stirbt ein Stück meines Herzens. Niemand weiß, wie viele Opfer der Krieg noch fordern wird, niemand weiß, wie viele Menschen ich nie wiedersehen werde.

Ich möchte mich jetzt an denjenigen, an diejenige wenden, der oder die diese Zeilen liest: Freue dich einfach über alles, was du in deinem Leben hast. Rufe deine Freunde, deine Lieben an, höre ihre Stimme, vergewissere dich, dass jetzt alles in Ordnung mit ihnen ist, und gehe abends friedlich ins Bett. Du wirst heute nicht vom Krieg träumen.

  • 23.2.2023
  • Viktor Dmytruk
  • pixabay.com , Ekkehard Rüger, Katharina Pfuhl/fundus-medien.de