Kita-Kinder entdecken Weltreligionen

Sie besuchen die Kirche, die Moschee und die Synagoge: Die Kinder der Evangelischen Kindertagesstätte Sandheide in Erkrath im Rheinland entdecken die Weltreligionen – mal mit den Augen, dann mit Händen, Füßen und Ohren. Es gibt keine verbotenen Fragen. „Vielleicht können wir so miteinander lernen, den anderen zuzuhören statt sie zu verurteilen“, sagt Kita-Leiterin Julia Schauf. Wir waren für die Titelgeschichte der neuen Ausgabe des Elternmagazins Zehn14 mit dabei.

Yunis hat das Kinn nachdenklich auf den Taufstein gelegt. „Sind da Fische drin?“, fragt er dann ganz interessiert und blickt Pfarrer Gabriel Schäfer an. „Keine Fische“, muss er den Jungen enttäuschen und erzählt dann von dem Wasser und der Taufe. Aber Yunis ist schon weitergelaufen. Es gibt so viel zu entdecken in der katholischen Kirche in Hochdahl. Warum sind die Fenster so bunt? Und wer ist die weinende Frau auf dem Wandbild? Warum gibt es hier so viele Türen? Und welche Geräusche machen die riesigen Pfeifen auf der Empore? Die Kinder aus der Kita Sandheide wollen es genau wissen. Sie erkunden an diesem Vormittag gemeinsam mit Erzieherin Melina Mammenello und Gabriel Schäfer die Kirche.

„So doll unterscheiden wir uns gar nicht“

Zwar ist der Besuch in dem katholischen Gotteshaus für den evangelischen Pfarrer auch kein Heimspiel, aber in den allermeisten Fällen findet er doch Antworten. „So doll unterscheiden wir uns nämlich gar nicht“, erklärt er. In den nächsten Tagen steht ein Ausflug in die evangelische Kirche an. Für die meisten der Kinder ist das alte Gebäude im Erkrather Stadtteil Hochdahl Neuland. Sie lernen Maria kennen, die um ihren toten Sohn weint. Und sie entdecken Engel und die Botschaft der Auferstehung. Sie dürfen sogar die Stufen zur Empore hochklettern und verfolgen, wie der Pfarrer ein paar Töne auf der Tastatur der Orgel spielt. „Das ist so ähnlich wie eine Trillerpfeife, oder?“, fragt eines der Kinder, als es sich die riesigen Orgelpfeifen genauer ansieht.

Pfarrer Gabriel Schäfer begleitete die Kinder bei Ihrem Besuch in der katholischen Kirche in Hochdahl.

Spurensuche im Judentum, Christentum und im Islam

Als die Vorschüler nach einer knappen Stunde die flachen Stufen vor der Kirche hinunterlaufen, werden sie langsam müde. Der Ausflugtag hat schließlich früh am Morgen begonnen. Während die Glocken läuten, machen sie sich auf den Weg zum Bus. Es ist einer von vielen Besuchen, die in diesen Monaten im Kalender der Vorschulkinder stehen. Die Jungen und Mädchen aus der Kita im rheinischen Erkrath haben sich auf Spurensuche begeben – im Judentum, im Christentum und im Islam.

Viele muslimisch geprägte Familien im Stadtviertel

„Fast 90 Prozent unserer Kinder haben einen internationalen Hintergrund“, erklärt Kita-Leiterin Schauf. Viele Familien im Stadtviertel seien muslimisch geprägt. „Und oft treffen deren Eltern ganz bewusst die Entscheidung, ihre Kinder in eine evangelische Kita zu schicken“, sagt Schauf. Hier gebe es einen Resonanzraum für religiöse Fragen. Die einen Kinder erzählen im Morgenkreis von Weihnachten, die anderen vom Ramadan. Die einen achten beim Essen darauf, dass die Lebensmittel „halal“ und damit in ihrer Religion als „sauber“ und „erlaubt“ anerkannt sind. Und die anderen verzichten auf Fleisch, weil sie vegetarisch leben.

Kita-Leiterin Julia Schauf (rechts) mit Erzieherin Melina Mammenello.

Im Kindergartenalltag wird niemand ausgeschlossen

„Manchmal fragen uns Kinder, ob sie mit offenen Händen beten dürfen, wenn wir gemeinsam ein Gebet sprechen“, erzählt die Kita-Leiterin. Und sie macht auch klar: „Natürlich dürfen Kinder bei uns mit offenen Händen beten.“ Zwar stehen auf den Esstischen selbst gemachte Kreuze, das „Vaterunser“ gehört zum Alltag, Pfarrer Schäfer kommt regelmäßig zur Andacht und erzählt von Jesus. „Aber wir zwingen hier niemanden zum Beten.“ Auch im Kita-Team würden sich unterschiedliche Religionen finden. Im Kindergartenalltag gilt: Niemand werde ausgeschlossen, es werde nicht separiert. „Aber wir bleiben evangelisch. Das ist uns wichtig“, sagt Schauf.

Erstes Projekt zu Weltreligionen

Zum ersten Mal widmet das Team in der Kindertagesstätte „Sandheide“ den Religionen nun ein großes Projekt – und will damit auch den Fragen und Unsicherheiten der Kinder einen zusätzlichen Raum bieten. „Wir haben die Hoffnung, dass wir damit ein kleines Körnchen anlegen, nicht zu verurteilen, sondern einander zuzuhören“, sagt Erzieherin Mammenello, die das Projekt in der Kita begleitet. In Zeiten des gesellschaftlichen und familiären Wandels wolle man den Kindern die Möglichkeit geben, die Religion des Sitznachbarn kennenzulernen.

Keine Frage ist verboten

„Was uns nicht fremd ist, braucht auch keine Vorurteile“, sagt Schauf. Und deswegen ist es ihr so wichtig, das Thema schon ganz früh auf den Tisch zu bringen. Das Team in der Kita verstehe sich dabei auch als Vorbild: „Wir sind ein Teil des Lebens der Kinder“, sagt Mammenello, „und wenn wir offen miteinander umgehen, können wir als Vorbilder wirken.“ Keine Frage ist verboten, Neugier und Interesse an dem anderen ausdrücklich erlaubt.

Kinder basteln Laubhütten und entdecken Symbole

Die Kinder entdecken Symbole und Traditionen der Weltreligionen, sie basteln Laubhütten und gestalten große bunte Fenster. „Wir haben in der Vorbereitung selber viel gelernt“, erzählt die Kita-Leiterin und berichtet von vielen Stunden, in denen sie Bücher gewälzt haben. Im Pausenraum der Kita ist schon eine Ecke mit gestalteten Plakaten der Kinder über die Weltreligionen, mit Bastelarbeiten und religiösen Gegenständen entstanden: ein kleines, interaktives Museum, das die Kinder einlädt, ins Gespräch zu kommen.

„In Frieden miteinander leben geht nur im Dialog“

Eine Woche nach dem Besuch in der katholischen Kirche ist Mohammed Assila in der Kita „Sandheide“ zu Gast. Er ist Lehrer, kultureller Berater und Vorsitzender des Marokkanischen Familien- und Kulturvereins in Erkrath und damit auch Leiter der Moschee. Während die Kinder noch beim Mittagessen sind, nimmt Assila auf einem der kleinen Stühle im Gruppenraum Platz. Warum er sich an dem Projekt beteiligt? „In Frieden miteinander leben: das geht nur im Dialog“, sagt er. „Dafür müssen wir lernen, uns zuzuhören. Es muss erlaubt sein, Fragen zu stellen.“

Die Kinder haben Plakate über die Weltreligionen gebastelt.

Kinder stürmen in den Raum

Und genau diese Möglichkeit will er auch den Jüngsten schon geben. „Es sind die ersten Meilensteine für gesunde, offene Persönlichkeiten.“ Irritationen wolle er in Potenziale umwandeln. „Extremismus sucht immer die Kluft. Wir wollen diese Kluften schließen. Mit Vernunft“, sagt Assila. Deswegen sei er so glücklich über die Zusammenarbeit mit der Kita. „Es ist schön, dass wir hier sein dürfen“, sagt er. Und dann begrüßt Assila die Kinder, die in den Raum stürmen und im Stuhlkreis Platz nehmen. „Salam aleikum“, sagt er. Friede sei mit dir. Er stellt sich vor und plaudert ein bisschen. „Bist du Jesus?“, fragt ein Kind dann plötzlich. Assila lächelt leise und respektvoll. „Ich bin nicht Jesus“, sagt er dann und erklärt freundlich: „Ich bin kein Prophet. Die Zeit der Propheten ist vorbei.“

„Ich bin Yunis“

Die Kinder blicken ihn interessiert an – erst recht, als er eine Kopfbedeckung vom Regal nimmt und in ihre kleinen Hände legt. Als die Gebetsmütze bei Yunis angekommen ist, setzt er sie auf den Kopf. „Komm mal zu mir“, sagt Assila und freut sich, als der Junge durch den Kreis auf ihn zukommt. „Bist du Moslem?“, fragt er den Jungen interessiert. Yunis blickt ihn etwas verständnislos an. „Bist du Christ?“, fragt Assila dann. Der Fünfjährige zuckt die Schultern: „Ich bin Yunis“, sagt er dann. Kurz und klar. Und dann setzt er sich samt Gebetsmütze wieder auf seinen kleinen Stuhl.

Kinder hören interessiert zu

„Wir erleben bei den Kindern in unserer Kita keine Vorurteile, sondern nur Neugierde“, hat Schauf vor dem Besuch an diesem Mittag festgestellt. Und auch in den rund 90 Minuten, die Assila mit den Kindern verbringt, reißt das Interesse der Jungen und Mädchen kaum ab. Das mag an der klaren und gleichzeitig freundlichen Art des Gastes liegen – oder auch an dem Thema, das vielen der Kinder dann doch vertraut vorkommt.

In welche Richtung beten Muslime?

Als die Gebetsmütze wieder bei Assila angekommen ist, fragt er die Kinder nach ihren Erfahrungen mit dem Beten. Er hat einen kleinen Teppich hervorgeholt und zeigt ihn den Kindern. „Ich weiß, was das ist“, verkündet Zaher. Und dann springt er von seinem Stuhl, kniet sich hin und legt Kopf und Hände auf den Boden. „Das geht so“, erklärt er dem Besucher und den anderen Kindern. Und Assila nickt wissend: „Muslime beten in die Richtung, wo die Sonne aufgeht“, erklärt er und legt dann selbst einen Teppich vor sich hin. Er zieht seine Schuhe aus und blickt ernst in die Runde. „Wenn ich bete“, sagt er, „dann möchte ich erstmal, dass alles sauber ist.“

Klatsch-Spiel erklärt Waschreihenfolge

Es ist eine Art Klatsch-Spiel, das er dann mit den Kindern anstimmt. Hände, Mund und Nase, Gesicht, Haare, Ohren, Füße: Nach fünf Minuten kennen die Vorschulkinder in Hochdahl die Reihenfolge der Waschungen zum Gebet. Sie klatschen mit, berühren Mund und Nase, dann Haare, Ohren und Füße. Dann wird es ganz ruhig in der Runde, denn Assila kniet sich zum Beten. „Wir stehen jetzt vor Gott. Wir stehen vor Allah“, sagt er, „in diesem Moment wollen wir mit ihm reden.“ Er zitiert aus dem Koran, manche der Jungs machen vorsichtig seine Bewegungen nach, als wollten sie mal testen, wie es sich anfühlt. Es ist mucksmäuschenstill im Raum.

Während des Projekts lernten die Kinder auch die Symbole verschiedener Religionen kennen.

„Was ist das für eine Sprache?“

Als Assila eine Gebetseinheit beendet hat, zieht er sich die Schuhe wieder an und setzt sich zurück auf seinen Stuhl. „Was ist das für eine Sprache? Ist das Chinesisch oder Arabisch?“, fragt er und grinst in die Runde. Die Kinder wissen die Antwort und lachen fröhlich mit. „Salam. Das heißt Frieden“, erklärt der Gast und macht den Kindern Mut, es mal selbst mit dem Beten zu versuchen. Während Teppich und Gebetsmütze wieder auf ihren Platz im Regal zurückkehren, greift Assila zur Gebetskette. „Wie viele Perlen hat diese Kette“, fragt er in die Runde. „Ich glaube, das sind 30“, antwortet Yasmin und schon im nächsten Moment hat sie die Gebetskette in der Hand und zählt gemeinsam mit dem Gast die Perlen. Als sie bei 30 angekommen sind, deutet Assila auf die Kette: „Es sind dreimal so viele“, sagt er, „genau 99.“ Jede Kugel will dem Betenden beim Zählen der Gebetsformeln helfen.

Kinder entdecken viele Gemeinsamkeiten

Auch die Gebetskette nimmt den Weg durch den Kreis. „Was ist denn in der Kirche und in der Moschee gleich?“, fragt Assila dann. Und  die Kinder erinnern sich an ihren Besuch in den beiden Kirchen. „Es wird gebetet“, sagt ein Junge. Assila nickt. „Wir haben viele Gemeinsamkeiten“, ergänzt er dann und macht sich mit den Kindern auf eine Spurensuche. „Kennt ihr die Geschichte von St. Martin?“, fragt er in die Runde. Die Kinder nicken und Zaher erzählt von dem Bischof, der seinen roten Mantel mit einem Bettler teilte. „Es ist gut, wenn wir teilen“, sagt Assila, als Zaher die Geschichte zu Ende erzählt hat, „daran glauben Moslems und daran glauben auch Christen.“

Pfarrer Schäfer nickt zustimmend

Gemeinsam fallen dem Besucher und den Kindern noch weitere Tugenden ein, die beide Religionen kennen. „Wir dürfen nichts klauen“, sagt ein Kind. „Schubsen ist auch nicht so gut“, sagt ein anderes. Und was, wenn es dann doch mal passiert? Da sind sich die Kinder nicht ganz einig. Assila hat aber eine Antwort im Gepäck: „Allah hat ein großes Herz, er hat uns lieb“, sagt er, „und er freut sich, wenn wir um Entschuldigung bitten.“ Pfarrer Schäfer, der an diesem Nachmittag ebenfalls im Stuhlkreis Platz genommen hat, nickt und erinnert sich an die letzte Andacht in der Kita. „Gott hat euch lieb“, hat er den Kindern erzählt.

Skepsis der Eltern verfliegt schnell

Nach rund anderthalb Stunden stehen die ersten Eltern vor der Tür, um die Kinder abzuholen. Sie wissen, worum es dieses Jahr im Vorschulprojekt der Kinder geht. „Wir haben natürlich mit den Eltern darüber gesprochen. Es gab einen Elternabend“, erzählt Schauf. Und dabei seien sie auch elterlichen Sorgen begegnet. „Eltern waren skeptisch, ob ihren Kindern eine Religion übergestülpt werden würde“, erzählt die Kita-Leiterin. Aber das Team konnte beruhigen: „Wir haben in unserem Leitbild die Toleranz und die Nächstenliebe tief verankert“, sagt Mammenello, „und genau darum geht es uns hier. Auch und gerade mit diesem Projekt.“

„Friede sei mit dir“

Während des Projekts steht auch noch ein Besuch in der Synagoge in Düsseldorf im Kalender. „Wir haben vor dem Start dieses Projekts intensiv überlegt, ob der Konflikt in Israel und Palästina Einfluss auf unsere Arbeit haben wird“, sagt Schauf. Aber das Team hat sich entschieden, das Projekt wie geplant umzusetzen – und den drei großen Religionen jeweils ein Kapitel zu widmen. Zum Abschluss gibt es auch noch eine kleine Einheit zu Buddhismus und Hinduismus. Als die meisten Kinder an diesem Nachmittag den Stuhlkreis schon wieder verlassen haben und ihre Schuhe anziehen, geht Yunis noch schnell bei Assila vorbei. „Salam“, sagt der Junge und lacht über das neue Wort. „Friede sei mit dir“, sagt Assila – und das meint er auch so.

Info: Ausgabe #22 des Elternmagazins Zehn14

Die 22. Ausgabe des Evangelischen Elternmagazins Zehn14 ist erschienen. Das Magazin bietet Wissens- und Lesenswertes zu Erziehungsfragen und Glaubensthemen. In der Titelgeschichte geht es dieses Mal um ein Kita-Projekt zum Thema Weltreligionen. Weitere Themen sind unter anderem: Kreativ mit Kindern beten, Giftpflanzen im Garten, die Folgen von Notbetreuung
für Familien und ein bilinguales Kita-Projekt im Saarland. Zehn14 ist ein Gemeinschaftsprojekt des Evangelischen Presseverbands für Westfalen und Lippe e.V. und der Evangelischen Kirche im Rheinland . Es erscheint zweimal im Jahr und kann von Kitas und Kita-Trägern zur Weitergabe an Eltern abonniert werden. Infos zum Magazin sowie zur Bestellung gibt es unter www.zehn14.de . Auch Einzelhefte zur Ansicht können dort bezogen werden.

  • 10.5.2024
  • Theresa Demski