Am 8. Mai 1945 erfolgte die bedingungslose Kapitulation der deutschen Wehrmacht: Der Zweite Weltkrieg war beendet, Europa vom Nationalsozialismus befreit. Veronika Poestges war damals 20 Jahre alt. Im Interview erzählt die heute 98-Jährige, wie sie den Tag erlebt hat.
Wie haben Sie vom Kriegsende erfahren? Was haben Sie am 8. Mai 1945 gemacht?
Veronika Poestges: Vom Kriegsende habe ich am Wegesrand erfahren. Wir waren mit dem Fahrrad von Schwedt, einer Kleinstadt an der Oder, nach Schleswig-Holstein zu Verwandten geflohen und waren dort gerade angekommen, als der Krieg zu Ende ging. Viel besser kann ich mich daran erinnern, als wir von Hitlers Tod hörten. Da war uns allen klar: Der Krieg ist bald vorbei. Auch wenn wir die folgenden Tage noch auf der Flucht waren. Rechts auf der Straße fuhren Flüchtlingstrecks, links die Soldaten, und wir mussten uns dazwischen durchschlängeln. Dann gab es immer wieder Fliegerangriffe. Wir kamen kurz vor den englischen Besatzern bei den Verwandten an und waren heilfroh, dass ihr Haus nicht zerbombt war und sie lebten. In 78 Jahren haben sich natürlich die Erinnerungen verändert. Das, was ich gelesen habe, was ich mit anderen gesprochen habe, worüber ich nachgedacht habe, hat auch das Bild geprägt, das ich von dieser Zeit habe und hat meine Einstellung beeinflusst.
Was war damals Ihr Gefühl?
Poestges: Wir hatten überlebt. Aber alles war total ungewiss. Wir besaßen nur das, was wir auf dem Leibe hatten. Aber auch Erleichterung. Hitler waren wir los, jetzt kann neu angefangen werden. Und bei aller Ungewissheit war da die Hoffnung, dass ich mein Theologiestudium vielleicht fortsetzen könnte. Und es gab eine große Unsicherheit, ob und wie es weitergeht. Wir konnten ja nicht von anderen Ländern erwarten, dass sie uns helfen. Ich dachte, man kann sich nur schämen, was wir der Welt angetan haben. Mein Bruder, der aus Stalingrad zurückgekehrt war, erzählte uns, was er alles gesehen hatte. Es war eine Überraschung, dass andere Länder uns halfen, dass Amerika den Marshall-Plan aufsetzte und Christen aus den USA uns Care-Pakete schickten.
Warum hatten Sie im Krieg Ihr Studium abbrechen müssen?
Poestges: Nach meinem Abitur 1943 und dem Reichsarbeitsdienst habe ich mit dem Theologiestudium begonnen. Dann wurden wir aber nach Hause geschickt und mussten kriegswichtige Arbeit leisten. Theologie war – im Gegensatz zum Medizinstudium – unwichtig. Ich musste in einer Munitionsfabrik arbeiten. Man sagte uns, wir brauchen keine Kirche, wir müssen für den Endsieg arbeiten.
Wie haben Sie die Zeit der NS-Dikatatur wahrgenommen?
Poestges: Mein Vater war Pfarrer. Immer wieder wurden Menschen – heute würde man Demenzkranke sagen – in ein anderes Heim verlegt und nach kurzer Zeit kamen sie in versiegelten Särgen zu ihrer Familie zurück. Als das mehrfach passierte, da war klar, dass sie ermordet wurden. Das wusste ich schon vor dem Abitur. Dies reichte um zu wissen, so dürfen wir nicht leben. Ich weiß nicht, wie ich das sonst ausdrücken soll. Ich wusste, dass ich das nicht wollte. Daher vielleicht auch der Wunsch Theologie zu studieren. Für die aus dem Reichsarbeitsdienst war das natürlich hirnrissig.
Was hat für Sie der Glaube bedeutet?
Poestges: Was meinen Glauben in dieser Zeit betrifft: Der hat mir geholfen. Ich habe mit Abstand die Erinnerungen aus meinem Tagebuch durchgelesen. Ich habe nur gedacht, was bin ich damals fromm gewesen. Ich war voller Vertrauen auf Gottes Führung. Der Grund dieses Vertrauens ist wohl geblieben, mein Glaube aber hat sich entwickelt. Diesen Glauben habe ich von meinen Eltern mitbekommen. Ein Erlebnis auf der Flucht hat einen tiefen Eindruck bei mir hinterlassen. Wir waren an einem Wäldchen vorbeigekommen und hatten die Räder hingelegt, um Pause zu machen. Soldaten kamen mit einer Gulasch-Kanone vorbei, wir bekamen etwas ab. Nachdem wir gegessen hatten, betete mein Vater wie sonst bei uns zu Hause am Mittagstisch: „Wir danken dir, Herr, denn du bist freundlich und deine Güte währet ewiglich.“ Wie sicher Gottes Hilfe ist, habe ich in diesen Tagen gelernt.
Zur Person: Veronika Poestges (Jahrgang 1925) war von 1952 bis 1956 Kreisjugendpfarrerin in Forst / Lausitz und von 1957 bis 1990 Schulpfarrerin am Kaiser-Karls-Gymnasium in Aachen.