Auf den Tischen liegen Rote Karten in DIN-A4-Format. Wenn es zu kompliziert wird, können die Teilnehmenden mit ihnen Leichte Sprache einfordern. Rund 30 Menschen mit und ohne Behinderungen sind an diesem Abend ins Essener Haus der Evangelischen Kirche gekommen. Ihr gemeinsames Anliegen: Sie wollen miteinander Freizeit verbringen. Und die Angebote dabei zugleich einem Test unterziehen. Sind sie wirklich barrierefrei zugänglich – oder wo hakt es auf dem Weg zum Freizeitspaß?
„Was soll man immer zu Hause sitzen? Man muss doch mal rausgehen“, beschreibt Monika Dettmer, Rentnerin aus Dinslaken, ihre Motivation, das erste Planungstreffen der Freizeit-Tester zu besuchen. Das neue Projekt ist auf fünf Jahre angelegt und wird zu 100 Prozent von der Aktion Mensch gefördert – von den Personalkosten bis hin zu den Eintrittsgeldern.
Menschenstadt Essen ab 2023 kirchlicher Eigenbetrieb
Trägerin ist die Aktion Menschenstadt . So nennt sich das Behindertenreferat des Evangelischen Kirchenkreises Essen schon seit Jahren. Was 1977 als kleine Ausgliederung aus dem Jugendreferat begann, hat sich in mehr als 40 Jahren immer weiter professionalisiert: Inzwischen besteht das Team aus 25 Mitarbeitenden. Dazu kommen rund 300 angestellte Assistenzkräfte in Kindergärten, Schulen und im Freizeitbereich sowie etwa 200 ehrenamtlich Helfende. Es gibt Ferienprogramme und Urlaubsreisen, Cafés und Beratungsangebote. Zum 1. Januar 2023 erfolgt der Schritt zum kirchlichen Eigenbetrieb, ab dann unter dem Namen Menschenstadt Essen.
Expertinnen und Experten in eigener Sache
Die Freizeit-Tester haben einen Vorläufer. „Runter vom Sofa“ nannte sich ein Ausflugsangebot, das in den 1990er-Jahren begann und lange erfolgreich lief. Aber das neue Projekt geht weiter: „Ihr seid die besten Expertinnen und Experten in eigener Sache“, wendet sich Antje Dawideit an die Anwesenden. Zusammen mit Dennis Hübner hat sie die Projektleitung übernommen und steht jetzt vor der Herausforderung, den aktuell nicht nur in der Inklusionsdebatte populären Begriff des Empowerments mit Leben zu füllen. Keine vorgefertigten Angebote, sondern ein begleiteter Weg der Selbstbefähigung und Selbstermächtigung. Welche Ausflugsziele streben wir an? Sind die Informationsangebote dazu verständlich? Wie kommen wir ans Ziel? Und ist vor Ort alles für alle gleichermaßen problemlos nutzbar?
Ein weiter Weg bis zur völligen Barrierefreiheit
Kein leichtes Unterfangen, die unterschiedlichen Lebenswelten unter einen Hut zu bekommen. Seh- und Körperbehinderungen erfordern eine andere Form der Barrierefreiheit als kognitive Einschränkungen. „Ich habe das Glück, laufen zu können“, wirft Dirk (58) in die Runde, „aber in Essen ist in Bezug auf Barrierefreiheit noch sehr, sehr viel zu tun.“ Klar ist jetzt schon: Als 30-köpfige Gruppe werden die Freizeit-Tester nicht losziehen. Die Grenze liegt bei zehn Personen. „Und wir brauchen erst einmal einige Termine, um die Ausflüge vorzubereiten“, beugt Projektleiter Hübner vor. Zunächst müsse eine Checkliste erarbeitet werden: „Was wollen wir wissen? Worauf müssen wir achten?“
Austausch und Denkanstöße statt öffentlichem Pranger
Dass die Erfahrungen bei der Vorbereitung und während der Ausflüge auch an die Öffentlichkeit gebracht werden, ist Bestandteil des Projekts. Dabei werde aber „diplomatisches Geschick“ gefordert sein, sagt Hübner. „Schließlich wollen wir in den Austausch kommen und Denkanstöße geben.“ Kein öffentlicher Pranger also. Bei den Rückmeldungen an die Veranstalter werde es auch den Hinweis geben, „dass es sich um subjektive Eindrücke der Teilnehmenden handelt“, ergänzt Antje Dawideit. Ein offizielles Mandat mit objektiven Bewertungskriterien nehmen die Freizeit-Tester nicht für sich in Anspruch. Aber Verbesserungsvorschläge wollen sie trotzdem unterbreiten: „Das können auch mal Kleinigkeiten sein, zum Beispiel den Schaukasten 50 Zentimeter niedriger zu hängen.“ Und wenn Positivbeispiele entdeckt werden, umso besser.
Nicht für die Menschen denken, sondern mit ihnen
Der rheinische Präses Thorsten Latzel, der sich vor Ort ein Bild von dem Inklusionsprojekt macht, ist auch mit Blick auf den Internationalen Tag der Menschen mit Behinderung von dem Empowerment-Gedanken überzeugt: „Ich finde sehr gut, dass die Menschen ermächtigt werden und nicht für sie gedacht wird, sondern mit ihnen gemeinsam.“ Der Lernprozess, sich eigenständig auf den Weg machen zu können, sei aufgrund der sehr unterschiedlichen Sichtweisen zwar anstrengend, „aber das sind wir: Wir sind eine Gesellschaft von Menschen mit unterschiedlichen Kompetenzen und Einschränkungen. Und es muss selbstverständlicher werden, das im Blick zu haben.“ Er sei sehr froh, „dass wir als Kirche und Diakonie an dieser Stelle Vorreiter sein können. Damit tragen wir zu einer menschenfreundlichen Gesellschaft bei.“
Informationen über Rechte für Menschen mit Behinderung
Vorrangig werden die Freizeit-Tester zunächst Ziele in Essen anstreben. Aber eine Ausweitung des Radius auf das gesamte Ruhrgebiet ist durchaus gewollt. „Vielleicht trauen sich die Teilnehmenden im Laufe der Zeit auch zu Orten hin, wo sie bisher noch nicht waren“, hofft Projektleiterin Dawideit. Das nächste Planungstreffen ist für den 10. Dezember vorgesehen. Dann sollen Informationen über die Rechte für Menschen mit Behinderungen und gesetzliche Vorschriften im Mittelpunkt stehen. Und zum Abschluss wird es schon eine erste kleine Freizeitaktivität geben: den gemeinsamen Besuch des Weihnachtsmarkts.