Düsseldorf. Dr. Wibke Janssen, hauptamtliches Mitglied der Kirchenleitung der Evangelischen Kirche im Rheinland und Leiterin der Abteilung Theologie und Ökumene, spricht vier Jahre nach dem Beginn der Corona-Pandemie im Interview über das Verhalten der Kirche, Fragen der Schuld und einen positiven Schub für die weltweite Ökumene.
Frau Janssen, vor vier Jahren, am 25. Februar 2020, wurde der erste Corona-Fall in Nordrhein-Westfalen nachgewiesen. Erinnern Sie sich noch, wie Sie die Nachricht damals wahrgenommen haben?
Wibke Janssen: Ich erinnere mich an einen wachsenden Schrecken. Zuerst habe ich mich noch gefragt, was das mit mir zu tun hat. Das war die Zeit, in der ich als Pfarrerin in der Schule gearbeitet habe. Aber dort rückte das Thema schnell immer näher und sorgte schon bald für Folgen, weil in der Schule viele Menschen eng beisammen sind. Ich war erstaunt, dass es im Jahr 2020 überhaupt noch passieren kann, dass wir mit einer Seuche zu tun haben, die wir nicht mal eben in den Griff bekommen. Und postkolonial habe ich auch gedacht, dass so etwas vielleicht noch mit Ebola in Afrika geschieht, aber nicht bei uns.
Damals waren Sie als Schulpfarrerin und Skriba im Kirchenkreis Bonn noch Empfängerin der landeskirchlichen Empfehlungen. Wie haben Sie diese empfunden?
Janssen: Als hilfreich und auch erst einmal als dringend erforderliche Zusammenstellung der notwendigen Fakten. Für mich waren das weniger Anweisungen als vielmehr Hilfsangebote im Dschungel der Informationen: Was gilt wo, welche Erkenntnisse gibt es und welche Regelungen?
Die rheinische Kirche war eher vorsichtig und hat den staatlichen Weg immer mitgetragen. Zu Recht?
Janssen: Das kann man immer nur im Nachhinein beurteilen und muss denen, die in einer solchen Krise agieren, zugutehalten, dass sie nach bestem Wissen und Gewissen handeln. Auch für mich gab es damals keinen Anlass für ein grundsätzliches Misstrauen gegenüber dem Staat und seinen Maßnahmen. Ich habe sie schon als Bemühen empfunden, die Bürgerinnen und Bürger zu schützen. Dass wir als Kirche an einzelnen Punkten zu schnell und zu weit mitgegangen sind, glaube ich aber im Rückblick schon. Es gibt ja die auch medial benannten Beispiele, dass Menschen in den Alteneinrichtungen ohne Begleitung gestorben sind. An dieser Stelle hätten wir sicher widerständiger sein können und ausloten müssen, ob nicht mehr Freiräume möglich gewesen wären. Das gilt generell für den Umgang mit vulnerablen Gruppen. Wir stellen jetzt auch fest, dass viele junge Leute durch die Pandemie seelischen Schaden davongetragen haben. Das hätten wir früher in den Blick nehmen müssen. Mir ist wichtig, dass wir daraus jetzt die richtigen Schlussfolgerungen für die Zukunft ziehen.
Sie haben die Seelsorge in den Alteneinrichtungen angesprochen. Gleiches gilt für die Krankenhäuser. Andererseits hat es dort viele Seelsorgende gegeben, die sehr kreativ Dinge möglich gemacht haben . Hätte die Kirche stärker grundsätzlich für die Seelsorge kämpfen müssen, statt vieles der Eigeninitiative vor Ort zu überlassen?
Janssen: Die Frage, wie man in der Situation strukturell ermutigender hätte sein können, ist berechtigt. Die fröhliche rheinische Subversion gab es ganz sicher. Das Amt als Pfarrer*in gibt einem schließlich eine hohe Verantwortung und die persönliche Gewissensfreiheit steht immer im Vordergrund. Stärker zu Kreativität zu ermutigen, wäre eine Option gewesen. Das ist an vielen Orten auch geschehen. Aber das kann man nicht verordnen. Diese Pandemie hat uns an die Grenzen der Erkenntnis und unserer Zerbrechlichkeit geführt. Hat die Sorge um die Seele immer Vorrang oder der Schutz des Lebens als solches? Das ist schwer zu entscheiden.
Auch der Zugang zu den Gottesdiensten war umstritten. War die Kirche gnadenlos, wenn sie Ungeimpfte ausgeschlossen hat?
Janssen: Ich bin medizinisch nicht kompetent genug, um das beurteilen zu können. Aber darüber wird diskutiert. Allerdings kamen nach der Pandemie gleich die nächsten Krisen wie der Ukrainekrieg. Wir sind aus meiner Sicht mit der Aufarbeitung der Pandemie noch nicht sorgfältig genug gewesen. Und wir sollten im Hinblick darauf, dass so etwas wieder geschehen kann, an dem Thema dranbleiben.
Das Spannungsfeld an Meinungen war auch innerhalb der Kirche groß. Hat das Schäden hinterlassen?
Janssen: Mein Eindruck ist, dass manche Gemeinden in eine sehr gute Diskussionskultur gekommen sind und andere nicht. Wir müssen lernen, im guten Sinne streitbarer zu werden, das ist ja auch ein Ergebnis aus der ForuM-Studie . Den Begriff der Einmütigkeit aus der Kirchenordnung künftig stärker mit positiver Streitkultur zu verbinden, steht jetzt an.
War die Absage von Oster- und Weihnachtsgottesdiensten zu leichtfertig?
Janssen: Es war zumindest sehr bitter, weil gerade diese Gottesdienste eine Vergegenwärtigung christlicher Gemeinschaft sind. Oft sind sie ja auch nicht abgesagt, sondern ins Digitale verlegt worden. Und da hat es einige wirklich gute Formate gegeben. Dass wir an manchen Stellen trotzdem zu schnell abgesagt haben, würde ich nicht ausschließen.
Es gibt den berühmten Corona-Satz von Jens Spahn: „Wir werden einander viel verzeihen müssen.“ Stimmen Sie zu?
Janssen: Auf jeden Fall. Und wir Kirchen sind an vorderster Linie berufen, uns darum zu kümmern. Im Augenblick gibt es ohnehin viel Anlass, sich auch theologisch mit dem Menschen zu beschäftigen, nicht aus moralischer Sicht, sondern mit einem realistischen Blick: Wo sind unsere Grenzen? Was ist mit der Schuld, die wir auf uns geladen haben? Ich würde im Nachhinein auch sagen, ich selbst habe zu lange gebraucht, um an der Schule zu verstehen, welche Gruppen von Schüler*innen in echte Bildungsnachteile geraten sind. Ich hoffe, ich war sensibler für die Schüler*innen, die sich in einer seelischen Notlage befanden. Aber auch da bin ich mir sicher, ich hätte noch aufmerksamer dafür sein müssen, wer zu Hause einer schwierigen familiären Situation anders ausgeliefert ist als im normalen Schulalltag und daher Hilfe gebraucht hätte.
Was kann die Kirche vier Jahre nach der Pandemie aus ihren Erfahrungen lernen?
Janssen: Nicht die Krise an sich macht Sinn, aber in der Krise nach Sinnhaftem zu suchen. Neben dem genannten Nachdenken darüber, was der Mensch ist, fallen mir die digitalen Aufbrüche ein, die es gegeben hat und die wir weiterverfolgen sollten. Dann sollten wir uns auf herausfordernde ethische Fragen wie die Möglichkeit einer Triage gut vorbereiten. Und in weiteren Kontext finde ich es wichtig vorausschauend zu klären, welche besonders verletzlichen Gruppen unsere vorrangige Aufmerksamkeit und Anwaltschaft brauchen. Auch die Frage nach unserer Rolle als Kirche in der Gesellschaft stellt sich noch einmal neu. Wie wichtig ist ein Weihnachtsgottesdienst? Um welchen Preis und mit welcher Kraft wollen wir das machen? Da hat es viele gute Ideen gegeben, die zum Teil auch unsere vertrauten Pfade und Kirchengebäude verlassen haben.
Hält der Digitalisiserungsschub aus Ihrer Sicht denn an?
Janssen: Ich habe den Eindruck, da gilt die Regel „Zwei Schritte vor und einer zurück“. Aber es gibt mittlerweile eine andere Offenheit dafür und auch mehr Kompetenz. Auch der Schritt zurück ist in gewisser Weise sinnvoll, weil ehrlicherweise auch nicht jeder digitale Gottesdienst in seiner Machart wirklich für die digitale Welt produziert war.
Hat es im Vergleich der weltweiten Ökumene Unterschiede im kirchlichen Umgang mit Corona gegeben?
Janssen: Das kann ich in der Tiefe nicht beurteilen. Aber auf jeden Fall hat die Ökumene durch die neuen digitalen Möglichkeiten einen Schub erhalten. Die Idee, im Rheinland einen Gottesdienst gemeinsam mit der Partnergemeinde in Tansania zu feiern und dabei über digitale Kanäle stärker verbunden zu sein, ist umsetzbar geworden. Auch die Frequenz des Austauschs hat zugenommen. Und ich weiß, dass es aus der Coronazeit internationale Gebetsgemeinschaften gibt, die bis heute fortbestehen.